Auswirkungen des «Brexit» auf die Fragen der Zuständigkeit und der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen
Per 1. Januar 2021 gilt das LugÜ für das Vereinigte Königreich nicht mehr. Was sind die Auswirkungen für die Regelung der Zuständigkeit, der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen?
von Kyra Baumgartner, Zurich
Jun 15 2021
<p><strong>Das Vereinigte Königreich ist per 31. Januar 2020 aus der Europäischen Union (EU) ausgetreten</strong><br></p><p>Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU wurde im Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Grossbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (sog. Withdrawal Agreement; Austrittsabkommen) geregelt. Gemäss Art. 126 des Austrittsabkommen gab es bis am 31. Dezember 2020 einen Übergangszeitraum. Bis zum Ende dieses Übergangszeitraums galt gemäss Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommen das Unionsrecht und damit auch das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LugÜ) für das Vereinigte Königreich fort.</p><p><strong>Per 1. Januar 2021 gilt das LugÜ für das Vereinigte Königreich nicht mehr. Was sind die Auswirkungen?</strong></p><p>Das Vereinigte Königreich hat am 8. April 2020 ein Beitrittsgesuch zum LugÜ gestellt, welcher die Zustimmung aller Vertragsparteien (Schweiz, Dänemark, Norwegen, Island und die EU) voraussetzt. Obwohl die Nicht-EU-Vertragsparteien des LugÜ dem Vereinigten Königreich ihre Unterstützung zugesagt haben, hat die Europäische Kommission in ihrem Bericht vom 4. Mai 2021 den Antrag des Vereinigten Königreichs abgelehnt. Die Mitteilung der Europäischen Kommission ist jedoch eine unverbindliche Empfehlung und der Endentscheid verbleibt beim Europäischen Rat. Sobald die Zustimmung aller Vertragsparteien vorliegt, wird der Depositar das Vereinigte Königreich zum Beitritt einladen. Das Übereinkommen tritt am ersten Tag des dritten Monats nach der Ratifikation in Kraft.</p><p>Die Schweiz hat mittlerweile sieben verschiedenen bilateralen Abkommen mit dem Vereinigten Königreich abgeschlossen (Luftverkehrsabkommen, Strassenverkehrsabkommen, Versicherungsabkommen, Handelsabkommen, Abkommen über die Rechte der Bürgerinnen und Bürger, Abkommen zur Mobilität von Dienstleistungserbringern, Polizeikooperationsabkommen), welche zum grössten Teil bereits am 1. Januar 2021 in Kraft getreten sind. Keines davon regelt die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen. Ob die Schweiz und das Vereinigte Königreich ein bilaterales Abkommen über die Zuständigkeit und die Vollstreckung und Anerkennung von Urteilen abschliessen wird, bleibt abzuwarten. </p><p>Momentan richtet sich die Zuständigkeit sowie die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Urteilen für Erkenntnisverfahren, die ab dem 1. Januar 2021 rechtshängig wurden bzw. werden, nach nationalem Recht. Für die Schweiz nach dem Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG). Bei Anerkennung und Vollstreckung sind allfällige Staatverträge, die in beiden Staaten gelten vorbehalten, z.B. das Haager Übereinkommen vom 1973 über die Anerkennung von Unterhaltsentscheidungen. Es gibt momentan keine Haager Übereinkommen, welche die Zuständigkeit regeln und in beiden Staaten gelten.</p><p>Nach Ansicht des schweizerischen Bundesamts für Justiz (BJ) geltend die Bestimmungen des LugÜ aufgrund der Grundsätze des Rückwirkungsverbots und des Rechtssicherheitsgebots auch nach dem 31. Dezember 2020 für die Anerkennung und Vollstreckbarerklärung von Entscheidungen, die vor dem 1. Januar 2021 ergangen sind. Zudem bleiben für Verfahren, die gemäss LugÜ eingeleitet wurden und die am 1. Januar 2021 noch hängig sind, die angerufenen Gerichte und Behörden zuständig, auch wenn die Zuständigkeit nach nationalem Recht nicht mehr begründet wäre. Die Gerichte und andere Behörden sind jedoch an diese juristische Einschätzung nicht gebunden.</p><p>Wurde in einem Vertrag zwischen einer britischen und einer schweizerischen Partei eine Gerichtsstandsklausel vereinbart, welche ein Schweizer Gericht für zuständig erklärt, werden die Schweizer Gerichte unter Vorbehalt der gesetzlichen Ausnahmen weiterhin Art. 23 LugÜ anwenden. </p><p><strong>Beispiel einer unbefriedigender Situation wegen des "Brexit"</strong><br></p><p>Die Parteien haben einen Vertrag abgeschlossen, welche als ein Auftrag oder ähnliche Dienstleistung zu qualifizieren ist. Der Beauftragte (zukünftiger Kläger) wohnt in London. Der Auftraggeber (zukünftiger Beklage) hat seinen Sitz in Zürich. Der zwischen den Parteien geschlossene Vertrag sieht keine Rechtswahl vor. In einem solchen Fall ergibt sich nach Art. 112 Abs. 1 IPRG die Zuständigkeit der Schweizer Gerichte. Allerdings müssten diese aufgrund des engsten Zusammenhangs mit dem Vereinigten Königreich i.S.v. Art. 117 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 lit. d IPRG das englische Recht anwenden (Art. 117 Abs. 1 IPRG). Zunächst müssen jedoch die Anwälte den Bestand des Anspruchs aus dem Vertrag nach britischem Recht prüfen und eine entsprechend begründete Klage in der Schweiz einleiten, was mit grossem Aufwand und Kosten verbunden ist.</p><p>Gerne berät Sie das Urbach Law-Team bei Ihren Anliegen.</p>
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